M+E-Tarifabschluss 2022

Die M+E-Tarifrunde 2022 fand unter besonders ungünstigen Ausgangsbedingungen statt. Das seltene Aufeinandertreffen von stark steigenden Preisen – unter denen Beschäftigte als Verbraucher und Betriebe als Einkäufer gleichermaßen leiden – und einer sich deutlich abkühlenden Konjunktur erschwerte die Lösungsfindung immens. Letztlich galt es, eine Schnittmenge zu finden zwischen dem Wunsch der Beschäftigten nach einem möglichst vollständigen Inflationsausgleich und der Ansage, dass ein Teil der Unternehmen in der aktuell stark angespannten Lage „eigentlich“ gar keine zusätzliche Kostenbelastung tragen könne.

Roman Zitzelsberger (li.) und Dr. Harald Marquardt nach dem Abschluss in Ludwigsburg

Am Ende steht ein Ergebnis, bei dem – wie zu erwarten – beide Seiten Abstriche von ihren ursprünglichen Maximalpositionen machen mussten. Im Kern ist es jedoch ein fairer Ausgleich der Interessen, der auch auf die höchst unterschiedliche Situation der Betriebe Rücksicht nimmt – und daher auch Lob von den Top-Ökonomen des Landes bekommen hat. Und selbst in dieser äußerst kritischen Situation haben sich die Sozialpartner um Themen bemüht, die die Zukunft und die Zukunftsfähigkeit der Tarifpolitik in den Blick nehmen. Im Folgenden die wichtigsten Regelungsinhalte des Abschlusses:

Entgelt:

Die Tarifentgelte (Tabellenwerte) werden zum 1. Juni 2023 um 5,2 Prozent und am 1. Mai 2024 nochmals um 3,3 Prozent erhöht. Die Gesamterhöhung liegt damit etwas über der ursprünglichen IG-Metall-Forderung von acht Prozent. Allerdings wird sie auf insgesamt 24 Monate gestreckt – und nicht wie von der Gewerkschaft gefordert auf zwölf Monate. Anders als in anderen Branchen greift die erste Stufe der Tabellensteigerung zudem erst Mitte des Jahres. Dies dämpft die Kostensteigerungen auf ein für das Gros der Unternehmen erträgliches Maß. Zudem haben die Tarifpartner die von der Politik angebotene Steuer- und Abgabenbefreiung für eine Inflationsausgleichsprämie von bis zu 3.000 Euro in vollem Umfang ausgeschöpft. Sie soll grundsätzlich in zwei Tranchen à 1.500 Euro in den beiden Jahren 2023 und 2024 bis zum 1. März an die Beschäftigten ausgezahlt werden, kann aber auch nach vorne gezogen, gestückelt oder mit Zustimmung des Betriebsrats nach hinten geschoben werden. Die IG Metall hat vorgerechnet, dass dem Gros der Beschäftigten damit für die Laufzeit des Tarifvertrags zwischen 6.000 und gut 8.500 Euro netto mehr zur Verfügung stehen.

Die Zahlen erscheinen auf den ersten Blick sehr hoch. Und tatsächlich dürfte das Entgeltplus einschließlich der von der Politik angestoßenen Entlastungsmaßnahmen in manchen Fällen ausreichen, die aktuelle Teuerung für die Beschäftigten weitgehend auszugleichen. Allerdingsbleiben die vereinbarten Tabellenerhöhungen hinter der erwarteten Inflation für die zwei Jahre zurück. Daher wird nach Einschätzung der Ökonomen eine sogenannte Lohn-Preis-Spirale vermieden. Eine solche setzt sich insbesondere dann in Gang, wenn die Löhne bei starker Inflation schneller steigen als die Verbraucherpreise, die Beschäftigten sich also mehr leisten können als vorher und damit einem weiteren Preisauftrieb Vorschub leisten könnten. Vor allem aber hat sich die IG Metall diese hoch erscheinenden Zahlen durch eine relativ lange Laufzeit erkauft, die wiederum – wie nachfolgend dargestellt – dabei hilft, die Kostenbelastungen des Abschlusses in einem für das Gros der Unternehmen noch erträglichen Umfang zu halten.

Kostenbelastung:

Was für die Beschäftigten die Entgelterhöhung ist, sind für die Betriebe die jährlichen zusätzlichen Kostenbelastungen, die sie durch den Tarifabschluss zu tragen haben. Hier bietet der Abschluss einen außergewöhnlich großen Spielraum für die Firmen, weil nämlich die Auszahlung der Inflationsausgleichsprämie einerseits jederzeit vorgezogen, andererseits mit Zustimmung des Betriebsrats per freiwilliger Betriebsvereinbarung auch komplett nach hinten geschoben werden kann. Dies ermöglicht den Unternehmen, einen wesentlichen Teil der Kosten in Kalenderjahre zu schieben, in denen es vielleicht noch etwas mehr „Luft“ dafür gibt. Wird zum Beispiel die Hälfte der 3.000 Euro noch ins bisher wenig belastete Jahr 2022 geschoben und der Rest geschickt auf die Jahre 2023 und 2024 verteilt, bleibt die jährliche Kostensteigerung in allen drei Jahren jeweils knapp unter drei Prozent. Der Abschluss bietet sogar die Möglichkeit, z.B. einen Teil der Prämie ins Jahr 2022 zu buchen, aber tatsächlich erst Anfang 2023 auszuzahlen. Fakt ist allerdings auch, dass die Tariftabellen am Ende der Laufzeit in Summe knapp 8,7 Prozent höher liegen als heute – eine dauerhafte Hypothek für die Unternehmen und die folgenden Tarifverhandlungen.

Für Problem- und Krisenfälle:

Wie schon im vorherigen Tarifabschluss können Betriebe, denen es nicht so gut geht, unter bestimmten Bedingungen das sogenannten Tarifliche Zusatzgeld (T-ZUG B), eine jährlich wiederkehrende Sonderzahlung, streichen – sowohl 2023 als auch 2024. Zunächst können sie die eigentlich im Juli fällige Auszahlung bis in den April des Folgejahres hineinschieben. Stellt sich dann heraus, dass die Nettoumsatzrendite des Vorjahres unter 2,3 Prozent geblieben ist, können sie die Auszahlung streichen. Zudem wurde das Tarifliche Zusatzgeld durch eine Umschichtung aus einer anderen Sonderzahlung von knapp 400 auf gut 600 Euro erhöht. Damit erhöht sich auch das Volumen dieser sogenannten automatischen Differenzierung, die Firmen mit geringeren Erträgen je nach betrieblicher Entgeltstruktur um ca. 1 Prozent entlastet.

Weiter wurde ein verbindlicher Prozess vereinbart für den Fall, dass es kurzfristig doch zu einem Energienotstand kommen sollte, der in den Firmen Produktionsstillstände erzwingt. Dann müssen sich die Betriebs- und die Tarifparteien innerhalb weniger Tage auf Maßnahmen verständigen, wie die Unternehmen in dieser Situation dann entlastet werden können.

Laufzeit:

Ein echtes Plus dieses Tarifabschlusses ist die lange Laufzeit von insgesamt zwei Jahren. Die Unternehmen, aber auch die Beschäftigten haben damit Planungssicherheit und eine verlässliche Kalkulationsgrundlage bis weit ins Jahr 2024 hinein. Das ist wichtig, denn zumindest für Anfang 2023 erwarten die Wirtschaftswissenschaftler eine Rezession in der Industrie. Auch die Gefahr eines Energiemangels ist noch nicht vollständig gebannt. Zwar wird dann schon wieder mit einer gewissen Entspannung gerechnet, doch mit Blick auf die Energieversorgung könnte auch noch mal der Winter 2023/24 kritisch werden. Insofern trägt dieser Abschluss Beschäftigte und Betriebe über die absehbar schwierigen Monate, die vor der M+E-Industrie liegen, vollständig hinweg.

Für die Zukunft:

Mit dem Abschluss haben sich die baden-württembergischen Metalltarifpartner mit „new work“ auch ein echtes Zukunftsthema als Gesprächsverpflichtung ins Aufgabenheft geschrieben. Dabei soll geprüft werden, wo es angesichts einer sich stark verändernden Arbeitswelt einen Handlungsbedarf gibt, Tarifverträge an die neuen Realitäten anzupassen. Im Blick hat man unter anderem die wachsenden Beschäftigtengruppen, deren Arbeitsorganisation sich durch die Digitalisierung immer stärker von den herkömmlichen Formen unterscheidet. Hinsichtlich der hohen Freiheitsgrade der Beschäftigten, projektbezogenem Arbeiten, Förderung von Kreativität, Eigenverantwortung, Selbstbestimmung und Flexibilität werden die heute geltenden Tarifverträge den modernen Anforderungen und Bedürfnissen nicht mehr in allen Facetten gerecht, so die gemeinsame Überzeugung der Tarifpartner.

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